«Wir könnten locker 300 weitere Personen zu unserer Liste von Begünstigten hinzufügen»
Die im Rahmen der Aktion «2 x Weihnachten» gesammelten Grundbedarfsartikel werden über die Kantonalverbände des Schweizerischen Roten Kreuzes schweizweit verteilt. In einigen Kantonen werden die Waren an soziale Organisationen gespendet, die sie an Personen in Notsituationen verteilen. Wie in Neuenburg, wo der Rotkreuz-Kantonalverband die Organisation «Un jour sans faim» unterstützt. Gespräch in Neuenburg mit Jeanie Santana Souza und Yolande Liechti, Co-Leiterinnen des Vereins.
Wie funktioniert Ihr Verein?
Yolande Liechti: Der Verein unterstützt rund 300 Personen, die jede Woche Lebensmittel im Umfang eines Einkaufswagens abholen kommen. Punktuell konnten wir zudem etwa 200 ukrainische Familien bei ihrer Ankunft in der Schweiz unterstützen. Doch in erster Linie geht es darum, Menschen zu helfen, die keine andere Form von Unterstützung erhalten. Entsprechend unserer Ressourcen können wir nicht allen Personen helfen, die sich an uns wenden. Wir müssen leider eine Auswahl treffen. Wir analysieren die Situation der unterstützten Personen regelmässig und müssen jenen den Vorrang geben, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen.
Ist es nicht schwierig, die Begünstigten auszuwählen?
Jeanie Santana Souza: Das ist sehr schwierig. Wir mussten insbesondere Personen von unserer Liste streichen, die wir schon sehr lange unterstützt hatten. Wir rotieren jetzt alle drei Monate und passen unsere Liste regelmässig an. Wir könnten ohne Weiteres 300 zusätzliche Personen hinzufügen – die Warteliste ist lang. Wir bräuchten jedoch mehr Mittel und mehr Zeit.
Wer kann sich an Sie wenden?
Yolande Liechti: Um einen Unterstützungsantrag zu stellen, muss man auf unserer Website ein Formular ausfüllen und Belege einreichen. Anschliessend wird die Situation der betreffenden Person anhand der eingereichten Dokumente analysiert. Haben die Sozialdienste, das Centre Social Protestant (CSP), Caritas und das Rote Kreuz ihre Ressourcen bezüglich der Unterstützung für eine Familie ausgeschöpft, ist es nicht selten, dass sie die Familie an uns verweisen.
Jeanie Santana Souza: Die Personen, welche die Mühen auf sich nehmen und sich an uns wenden, sind alle in einer wirklich schwierigen Situation. Sie müssen ihren Stolz beiseitelegen. Wir sind ihre letzte Anlaufstelle. Eine Person, die nicht wirklich Hilfe braucht, kommt nicht.
Was ist das Profil der Menschen, die Sie unterstützen?
Jeanie Santana Souza: Häufig wenden sich alleinerziehende Frauen an uns. Doch zu uns kommen auch viele Menschen von der IV, den Sozialdiensten oder Pensionierte, die in einer sehr schwierigen Lage sind. Es kommen auch erwerbstätige Personen, die jedoch finanziell trotzdem nicht über die Runden kommen.
Wie wirken sich die aufeinanderfolgenden Krisen auf Ihre Arbeit aus?
Yolande Liechti: Dieses Jahr stehen wir vor einem grossen Problem. Wir erhalten enorm viele Anfragen und unser Lagerbestand ist schon fast aufgebraucht. Die Inflation ist deutlich spürbar. Zahlreiche Menschen sind in finanzielle Schwierigkeiten geraten und wenden sich an uns. Alles ist teuer geworden und wir sehen wirklich einen Unterschied. Unser Bestand wird durch die Waren von «2 x Weihnachten» aufgefüllt. Teigwaren, Mehl, Reis, Öl, Kaffee, Konfitüre und Müesli: Diese Lebensmittel sind lange haltbar. Sie werden das ganze Jahr über verteilt, zusätzlich zu Fleisch und Früchten, die nicht verkauft wurden, und die wir bei Manor und Prodega abholen.
Wie finanzieren Sie den Verein?
Yolande Liechti: Jede unterstützte Person zahlt monatlich 5 Franken. Damit wird ein Teil der Kosten des Vereins finanziert.Wir haben zudem einen Spielzeugtausch und das «Café-Boulangerie +1» ins Leben gerufen, das dem Verein angeschlossen ist. Dort verkaufen wir Brot, Gipfeli und Gebäck, die nicht verkauft wurden, aus neun Bäckereien des Kantons. Wir sind auch durch Spenden finanziert. In der Corona-Krise haben sich viele lokale Unternehmen und Privatpersonen sehr solidarisch gezeigt. Doch inzwischen ist dies versiegt und uns fehlt die Zeit für ein professionelles Fundraising.
Was hat Sie dazu bewogen, selber für den Verein tätig zu sein?
Jeanie Santana Souza: Ich habe selber während einigen Jahren in einer sehr prekären Situation gelebt. Als alleinerziehende Mutter mit vier Kindern und ohne finanzielle Ressourcen wäre ich sehr froh um Unterstützung von einer solchen Organisation gewesen. Als Jugendliche war ich bereits in einer schwierigen Situation gewesen aufgrund von familiären Angelegenheiten. Infolge dessen stand ich ohne nichts da, wirklich ohne nichts. Daher möchte ich armutsbetroffenen Menschen bestmöglich helfen. Damit die Mütter nicht das erleben, was ich damals erlebt habe: Die Angst, seine Kinder nicht ernähren zu können.
Yolande Liechti: Ich wurde zuerst zu 10% angestellt, um den Verein zu übernehmen, nachdem die Leiterin aufgrund gesundheitlicher Probleme aufgehört hatte. Ich habe viel Energie reingesteckt, ohne die Stunden zu zählen. Ich habe dies mit Freude und aus Überzeugung gemacht. Dann ist Jeanie dazu gestossen und hat sich während mehreren Jahren als Freiwillige engagiert. Heute leiten wir den Verein zusammen. In dem Moment, in dem man die Not sieht, ist man zu sehr betroffen, um etwas Anderes zu machen. Ich gab also meine damalige Stelle auf, um mich ganz hier zu engagieren.
Wie viel Zeit wenden Sie für den Verein auf?
Yolande Liechti: Wir arbeiten viel, aber wir werden zu 50% entlohnt. Wir holen die Lebensmittel täglich ab, auch am Sonntag.
Jeanie Santana Souza: Wir zahlen uns das Minimum aus. Für uns zwei ist es sehr kompliziert. Wir haben uns oder unsere Familien etwas vergessen. Heute versuchen wir, unsere Grenzen nicht zu überschreiten und das richtige Mass zu finden. Doch wir wissen, dass 300 Personen auf uns zählen. Wenn du weisst, dass so viele Menschen darauf angewiesen sind, ist der Gedanke unerträglich, dass die Lebensmittel weggeworfen werden, wenn wir sie nicht abholen.
Erhalten Sie Unterstützung von Freiwilligen?
Jeanie Santana Souza: Uns helfen Personen, die im Rahmen der beruflichen Integration von den Sozialdiensten vermittelt werden. Diese sind für drei Monate unter Vertrag und erhalten eine kleine Entschädigung, zusätzlich zu dem, was sie von den Sozialdiensten erhalten. Also sehr wenig. Aber vielen ermöglicht dies, einen gewissen Rhythmus zu haben, soziale Kontakte zu pflegen und eine zusätzliche Berufserfahrung zu erlangen. Wir haben noch einige Freiwillige – meistens von den Sozialdiensten vermittelte Personen – die bei uns gearbeitet haben und wiederkommen, um uns freiwillig zu unterstützen. Selbst wenn sie bereits eine Stelle gefunden haben.
Wir arbeiten am Samstag mit einigen Freiwilligen. Doch es gibt viele Wechsel unter den Freiwilligen, was für eine Organisation wie die unsere sehr schwierig ist.