Bangladesch: Leben auf vergänglichem Land
Bangladesch wird auch das Land der Flüsse genannt. Die unzähligen Flussläufe stellen für viele die Grundlage des Lebens dar. Gleichzeitig sind sie eine Gefahr, weil sie während der Monsun-Zeit einen Grossteil des Landes überschwemmen. Die 35-jährige verwitwete Mutter Rupali Begum erzählt uns vom Leben auf vergänglichen Inseln.
Text: Felicitas Ledergerber | Fotos: Khandaker M. Asad
Mit dem Monsun von Juni bis Oktober werden in Bangladesch gewaltige Mengen an Sedimenten angeschwemmt, welche sich entlang der Flussläufe absetzen. Dadurch bilden sich Chars. Das sind extrem fruchtbare Sediment-Inseln. Sie verändern sich ständig und bestehen während fünf bis 20 Jahren, einige länger.
Chars sind extrem fruchtbare Sediment-Inseln, die sich ständig verändern.
Halbnomadischer Lebensstil
Die Menschen auf den Chars folgen einem halbnomadischen Lebensstil. Die Chars bieten extrem armen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, sich eine Existenz aufzubauen, denn Landbesitz ist im enorm dicht besiedelten Bangladesch ein Privileg.
Schwer zu erreichende Regionen
Die Regierung Bangladeschs hat die Chars als besonders schwer zu erreichende Regionen eingestuft. Wir machen uns früh morgens auf den Weg. Auf die knapp zweistündige Autofahrt folgt eine Motorradreise über sandiges Gelände, vorbei an goldgelben Reisfeldern, grasenden Kühen und Ziegen und weit verstreuten, einfachen Häusern.
Rupali Begums Leben
Nach einer guten halben Stunde Fahrt erreichen wir das Dorf Ponshanond Polashtola, eine Ansammlung von Ton- und Wellblechhäusern auf einem leicht erhöhten Grundstück. Eine schüchterne Frau Mitte Dreissig begrüsst uns freundlich und stellt sich mit Rupali Begum vor.
Rupali Begum befindet sich in einer besonders schweren Lebensphase. Vor zweieinhalb Monaten ist ihr Mann Abdul mit nur 40 Jahren unerwartet an einem Schlaganfall verstorben, während er kurzzeitig als Rikscha-Fahrer in Dhaka war. Nun ist Rupali Begum alleine mit ihrer 14-jährigen Tochter Mim Akter und ihrem zehn Jahre alten Sohn Riad Hossain. Mim Akter wohnt nun bei einem Onkel, da Rupali Begum erst einen Weg finden muss, um die Familie alleine über Wasser halten zu können.
Die Ärmsten auf vergänglichem Land
Mim Akter ist vom Haus ihres Onkels angereist, eigens für unseren Besuch. Nun ist die Familie beisammen, und viele Emotionen treten zutage. Wir entscheiden uns deshalb für einen Spaziergang zum Fluss. Rupali Begum zeigt uns, wo ihr letztes Haus gestanden hat, bevor es der Flusserosion zum Opfer gefallen ist.
Wenn das Zuhause weggeschwemmt wird
Zum ersten Mal hat Rupali Begum ihr Zuhause mit 13 Jahren verloren, seither ist sie neun Mal umgezogen - jedes Mal, wenn ihr Haus vom Fluss mitgerissen wurde. Zu Beginn ihrer Ehe vor 16 Jahren hat der Schwiegervater den Frischvermählten ein Stück Land vermacht. Dieses ist jedoch ein paar Jahre später in den Fluten verschwunden. Seither haben sie immer mal wieder ein kleines Stück Land gekauft. Landbesitzer verkaufen das Land jeweils für wenig Geld, wenn absehbar wird, dass es früher oder später überflutet wird.
Das letzte Landstück mussten Abdul und Rupali Begum verkaufen, um die Behandlung von Abduls Nierenproblemen zu bezahlen. Weil das nicht reichte, mussten sie kleinere Kredite aufnehmen. Deswegen reiste Abdul regelmässig für mehrere Wochen nach Dhaka, um als Rikscha-Fahrer etwas zu verdienen.
Jedes Mal, wenn der Fluss das Zuhause auf der Char weggeschwemmt hat, musste Rupali Begum wieder umziehen.
Wir gehen zum Haus zurück. Rupali Begum und ihre Kinder sind etwas müde. Ich verabschiede mich für die Nacht und reise mit meinen Begleitern den langen Weg zurück.
Rupali Begum und die Kinder stehen vor der Morgendämmerung auf. Als die Sonne schon etwas höher steht, stosse ich wieder zu ihnen. Wir setzen uns, damit wir uns ruhig unterhalten können.
Die Kühe bei Hochwasser füttern
Rupali Begum erzählt mir von der grossen Überschwemmung vor zwei Jahren. Bis zu den Knien stand ihnen das Wasser im Haus. Für 15 Tage haben sie im erhöhten Bett verharrt und darauf gewartet, dass das Wasser wieder sinkt. Die Kühe hat Rupali Begum an einen höher gelegenen Ort gebracht und sie weiterhin täglich gefüttert.
Durch das Hochwasser zu waten ist jedoch gefährlich. Schlangenbisse sind nicht selten. Aber der Transport von frischem Wasser und Futter für die Kühe ist nur auf einem Holzbrett möglich, das man durchs Wasser schieben muss.
Vorbereitung vor der Flut
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Chars bereiten sich jedes Jahr auf mögliche Überflutungen vor. Sie lagern Holz und Äste unter dem Dach, damit genügend Brennmaterial zum Kochen da ist. Laut Rupali gibt es im Dorf kein Frühwarnsystem. Erst wenn der Fluss gefährlich nah an den Häusern vorbeifliesst, fordert der Imam über den Lautsprecher die Menschen dazu auf, sich zum Schutz in die Moschee zu begeben. Aber man muss schnell sein. Die kleine Moschee kann nur einem kleinen Teil der Gemeinschaft Schutz bieten.
Bei gesundheitlichen Notfällen während der Überflutung gibt es kaum Rettung.
Die nächste Flut wird kommen
Rupali Begums Geschichte ist einzigartig, aber vergleichbar mit vielen Familiengeschichten auf den Chars. Zum Schluss frage ich sie, ob sie erwartet, dass auch dieses Zuhause irgendwann vom Wasser weggeschwemmt wird. Ihre Antwort beruht auf ihrer Lebenserfahrung und lässt keinen Zweifel offen: «Ja, ich schätze, in drei bis vier Jahren wird uns der Fluss erreichen. Der Besitzer des Hauses ist sehr freundlich, wir werden wahrscheinlich bis dahin hier leben können.»
ÜBER DIE AUTORIN
Die Autorin dieser Reportage, Felicitas Ledergerber, absolviert beim SRK ein zweijähriges Ausbildungsprogramm als Junior-Programmverantwortliche. Seit November 2020 ist die 33-Jährige dazu in Bangladesch im Einsatz.