Gaza: «Die Verletzungen sind körperlich und seelisch»
Seit einem Jahr verursacht die in Israel und den besetzten Gebieten herrschende Gewalt riesige menschliche Verluste. Eine vom SRK ins IKRK-Feldspital von Rafah entsandte Operationsfachfrau berichtet von einer katastrophalen humanitären Lage. Das Leid vor Ort ist körperlich und seelisch. Das medizinische Personal versucht, die immensen medizinischen Bedürfnisse unter äusserst schwierigen Bedingungen abzudecken.
Manuela Logan
Die Operationsfachfrau arbeitet seit 26 Jahren im Spital Grabs (SG). Seit zehn Jahren gehört sie dem Team des SRK-Nothilfepools ERU an. Sie hatte schon an Einsätzen des Roten Kreuzes in Bangladesch, Malawi und Syrien teilgenommen. Nun arbeitete sie sechs Wochen im IKRK-Feldspital von Rafah.
Was kommt dir als Erstes in den Sinn, wenn du an deinen Einsatz zurückdenkst?
Die Art der Kriegsverletzungen und die Eingriffe, die diese erforderten. Ich war mit zahlreichen Amputationen konfrontiert. Die Menschen sind körperlich, aber auch seelisch geprägt. Das merkt man daran, dass sie extreme Angst vor Schmerzen haben. Selbst bei kleinen Eingriffen und einfachen Verbandwechseln hatten sie unverhältnismässig grosse Angst. Für einige war die blosse Ansicht ihrer Narbe unerträglich.
Andere verlangten eine Anästhesie, um nichts zu spüren. Sie wollten einfach schlafen und nichts mehr mit dem Schmerz zu tun haben. Das war sowohl bei den Kindern als auch den Erwachsenen festzustellen.
Wie waren die Arbeitsbedingungen?
Ich fühlte mich immer sicher, aber das Arbeitsumfeld war sehr schwierig. Wir hatten 10- bis 12-stündige Arbeitstage. Die Hitze in den Zelten bei 40 Grad Aussentemperatur war erdrückend. Das stellte auch eine Herausforderung in Sachen Hygiene dar. In den Bettenbereichen wurden die Ventilatoren manchmal auch auf die Wunden gerichtet, um die Fliegen zu verscheuchen. Unter diesen Umständen ziehen Wunden Fliegen und allgemein Bakterien geradezu an. Wir machten bei den Standards, wie wir sie kennen, so wenige Abstriche wie möglich, aber ein Feldspital erfordert gewisse Anpassungen.
Wie seid ihr mit dem Mangel an medizinischem Material fertig geworden?
Man muss ein wenig improvisieren. Als wir keine sterilen Kompressen mehr hatten, fertigten wir sie aus Verbänden an, die wir selber sterilisiert hatten. Bei vielen offenen Wunden muss der Verband regelmässig gewechselt werden, was viel steriles Material verbraucht. Diese Menge war unterschätzt worden.
Aufgrund der vielen Verletzungen an den Gliedmassen und vor allem an den Beinen fehlten uns auch Krücken. Deshalb wurden im Spital lokale Schreiner beschäftigt, die aus den vielen am Standort vorhandenen Paletten Krücken fertigten. Sie bastelten auch Holzkisten für die persönlichen Habseligkeiten der Patientinnen und Patienten. Schliesslich hilft auch der unglaubliche Einsatz der lokalen Angestellten, um voranzukommen. Das gilt vor allem für das medizinische Personal, dank dem das Spital rund um die Uhr arbeiten kann.
Wie ist die Lage des lokalen medizinischen Personals?
Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort befinden sich in einer Extremsituation. Ausserhalb des Spitals leben sie oft unter den gleichen Bedingungen wie die Patientinnen und Patienten, d. h. in improvisierten Hütten aus Brettern und Wellblech, die sie jeden Morgen verlassen, um arbeiten zu gehen. Nicht selten verlassen sie nach dem Erhalt einer Nachricht über Evakuierungen oder Bombardierungen überstürzt das Spital. Alle haben Familienmitglieder oder enge Freunde verloren. Ihre gesamte Lebensstruktur, ihr Arbeitsort, die Schule der Kinder, ihr Haus – alles ist zerstört. Was wir als «Normalität» erachten, gibt es seit Monaten nicht mehr. Und niemand weiss, wann wieder ein Anschein von Normalität einkehrt.
Wie steht es um die Patientinnen und Patienten?
Wie wir waren auch sie den unvorhergesehenen Ereignissen ausgesetzt. Es war schwierig, die Eingriffe zu planen. Sie wussten auch, dass eine Bombardierung unser gesamtes Programm durcheinanderbringen konnte und einen massiven Zustrom von Verletzten bedeutete.
Neben diesen Schwierigkeiten weisen viele Patientinnen und Patienten einen schweren Vitamin- und Eiweissmangel auf. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Wundheilung. Ihr schlechter vaskulärer Status behindert die Wiederherstellung der Gefässe und Gewebe der Wunden.
Wie erfolgt unter diesen Umständen der Austritt aus dem Spital?
Viele wollen dieses Umfeld nicht verlassen. Sie fühlen sich dort sicher. Es gibt psychologische Unterstützung, um die Patientinnen und Patienten auf den Austritt vorzubereiten, aber es ist sehr kompliziert. Wenn eine Patientin, die beide Beine verloren hat, das Spital im Rollstuhl verlassen muss und uns fragt, wie sie im Sand vorwärts kommen und die 300 Meter bis zur Toilette zurücklegen soll, hat niemand eine Antwort. Es erwartet sie keine Therapie und kein Sozialdienst, der sich um sie kümmert. Man beschränkt sich auf das, was man beeinflussen kann, und gibt ihnen einen nächsten Termin für den Verbandwechsel. Einige sind völlig hilflos.
Wie kann dieses Leid gelindert werden? Was wird am dringendsten benötigt?
Wir müssen den Weiterbetrieb dieses Spitals um jeden Preis sichern. Die Zerstörung ist derart massiv, dass der Bedarf selbst bei einem Waffenstillstand nicht über Nacht abnehmen würde. Solange die Spitalinfrastruktur am Boden liegt, bleibt das IKRK-Feldspital unverzichtbar. Ausserdem muss auch der Nachschub an medizinischem Material gewährleistet sein, damit es weiterbetrieben werden kann. Die Einfuhr dieses Materials ist aber weiterhin schwierig. Jede medizinische Handlung wird abgewogen, um das Material sparsam einzusetzen.