Stimmen aus der Ukraine
Die Unterbringung und Versorgung der Binnenflüchtlinge in der Ukraine gelingt dank der Unterstützung von Partnern der Internationalen Rotkreuz- und Halbmondbewegung. Ein Team des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) ist in Iwano-Frankiwsk und im benachbarten Ternopil im Einsatz. Geflüchtete und Rotkreuz-Mitarbeitende berichten von ihren Erfahrungen.
Text: Mariia Ieromenko; Fotos: Ukrainisches Rotes Kreuz
Mit Ausbruch des Konfliktes in der Ukraine Ende Februar 2022 flohen viele Menschen aus ihrer Heimat. Rund 5 Millionen Menschen verliessen das Land und suchten Zuflucht in anderen europäischen Ländern. Doch viele von ihnen, über 6 Millionen, sind innerhalb der Ukraine in sicherere Gebiete geflüchtet. Das SRK kümmert sich um sie in den Oblasten Iwano-Frankiwsk und Ternopil im Westen des Landes. In diesem Beitrag erzählen sie von ihren Erfahrungen.
Liubov Tolokolnikova, 65, Geflüchtete aus Sjewjerodonezk
«Am 24. Februar wurde unsere Stadt beschossen. Zuerst haben wir uns in der Wohnung versteckt. Am 8. März wollte mein Mann mir eine Torte zum Tag der Frau kaufen, aber der Beschuss begann um 4 Uhr morgens. Als Brände in der Stadt ausbrachen, gingen wir in den Keller. Mein Mann hat nur zwei Tage im Keller überlebt – sein Herz hat es nicht ertragen. Am 18. März starb er.
Am nächsten Tag holte ihn das Bestattungsinstitut ab und am selben Tag rannte ich unter Beschuss zu meiner Tochter in eine ruhigere Gegend. Aber die Bombardierung wurde noch intensiver. Wir sahen, wie mehrstöckige Gebäude in der Nachbarschaft brannten. Wir beschlossen, uns zu retten und die Stadt zu verlassen.
Ich habe gehört, dass unsere Stadt jetzt zu 90 Prozent zerstört ist. Das ist also das zweite Mariupol?
Liubov Tolokolnikova, 65, Geflüchtete aus Sjewjerodonezk
Ich bin sogar ohne Pass gefahren, weil wegen der Explosionen die Tür in der Wohnung klemmte. Die ganze Zeit über betete ich, dass alle im Bus am Leben bleiben würden. Wir kamen in Lwiw an, und dann fand unsere Tochter in Kolomyja das Rote Kreuz, das uns Zuflucht gewährte. Ich bin sehr dankbar. Ich habe gehört, dass unsere Stadt jetzt zu 90 Prozent zerstört ist. Das ist also das zweite Mariupol?»
Zu Besuch bei den Geflüchteten
Liza Matsegora, 18, Geflüchtete und Rotkreuz-Freiwillige
«Ich bin in Sjewjerodonezk geboren und habe im zweiten Studienjahr der Finanzfakultät in Charkiw studiert. Ich bin seit 2018 beim Roten Kreuz.
Kam die Eskalation für mich überraschend? Ich habe es bis zuletzt nicht geglaubt. Ich habe gesagt: 'Wozu sich vorbereiten, wozu das Notfallgepäck?' Doch am Abend des 23. Februar schlug ich meiner Mitbewohnerin vor, zu packen - ich hatte ein merkwürdiges Gefühl. Und um 5 Uhr morgens weckte sie mich und fragte, was los sei.
Die Ausbildung beim Roten Kreuz hat mir in dieser schwierigen Situation sehr geholfen.
Liza Matsegora, 18, Geflüchtete und Rotkreuz-Freiwillige
Ich muss sagen, dass mir die Ausbildung beim Roten Kreuz sehr geholfen hat. Wir haben eine höhere Stresstoleranz. Als es nötig war, konnte ich die Verantwortung übernehmen und die Arbeit in der Flüchtlingsunterkunft koordinieren. Wir bereiteten sofort den Keller vor, um uns dort vor Beschuss zu verstecken. Dort habe ich zehn Tage gelebt.
Danach wurde ich von Freiwilligen aus Krasnograd, Gebiet Charkiw, empfangen. Da war ich anderthalb Monate als Freiwillige tätig und bin dann mit der Hilfe von Freiwilligen mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester nach Iwano-Frankiwsk gezogen.
Zwei Wochen später merkte ich, dass ich nicht untätig bleiben konnte und ging zum Büro des örtlichen Roten Kreuzes. Jetzt bin ich Erste-Hilfe-Lehrerin, sorge für psychische Erste Hilfe, entwickle Freiwilligenarbeit. Das heisst, ich engagiere mich in verschiedenen Bereichen für das Rote Kreuz.»
Vira Vlasenko, 68, Geflüchtete aus Mykolajiw
«Niemand von uns hat damit gerechnet. Am Anfang war es ein echter Schock. Aber trotzdem geht das Leben weiter. In Mykolajiw herrscht jetzt eine sehr schwierige humanitäre Situation: Die Stadt wird regelmässig beschossen, es gibt ernsthafte Probleme mit dem Trinkwasser.
Daher bin ich dem Roten Kreuz für die Hilfe bei der Unterbringung in Kolomyja dankbar. Die Lebensbedingungen verbessern sich – jetzt gibt es zwei neue Kühlschränke, in denen jeder seine eigenen Lebensmittel bequem aufbewahren kann. Ich möchte wirklich, dass das alles bald endet, nach Hause zurückkehren […] dass das Haus überlebt, dass keine Menschen sterben. Es ist gut, dass wir hier freundlich zusammenleben, wir helfen uns gegenseitig.»
Ich möchte wirklich, dass das alles bald endet und ich nach Hause zurückkehren kann.
Vira Vlasenko, 68 Jahre alt, Geflüchtete aus Mykolajiw
Ausmass der Fluchtbewegung
0Geflüchtete
befinden sich aktuell ausserhalb der Ukraine.
0Binnenflüchtlinge
leben nun in anderen Regionen in der Ukraine.
0Menschen
leben aktuell als Geflüchtete in Iwano-Frankiwsk.
GUT ZU WISSEN
Die Hilfe des SRK in der Ukraine
Das SRK unterstützt seit Beginn des Krieges in den Bezirken Iwano-Frankiwsk und Ternopil im Westen des Landes seine Schwestergesellschaft bei der Nothilfe. Im Vordergrund steht die Unterbringung und medizinische Versorgung von Menschen, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind.
Seit Beginn des Konflikts hatte das SRK bereits fünf Nothilfe-Spezialisten in die umliegenden Länder entsandt. In Moldawien, Polen, Ungarn und der Slowakei unterstützen sie die Hilfseinsätze der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung für die zahlreichen notleidenden Menschen.
Das SRK ist seit mehreren Jahren aktiv in der Ukraine in den Bereichen Alter und Gesundheit.
Simon Flückiger, 31, Delegierter des SRK
«Als Delegierter des SRK sorge ich in kurzer Zeit für Unterkünfte für die vielen Binnenflüchtlinge. Das sind ukrainische Familien, die innerhalb des Landes Schutz suchen. In Iwano-Frankiwsk und Ternopil unterstützen wir das Ukrainische Rote Kreuz, damit sie hier leben können.
In den letzten Monaten haben wir zahlreiche Orte für die Unterbringung geprüft. Derzeit, Stand Ende Juni, gibt es 25 Unterkünfte in den beiden Regionen. Das sind Wohnungen, aber auch Gebäude, die nicht für dauerhaftes Wohnen eingerichtet sind, wie Schulen oder Turnhallen. Jetzt sind wir daran, die Lebensbedingungen für die geflüchteten Familien zu verbessern. Wir stellen sanitäre Anlagen sowie Alltagsgegenstände bereit. Zudem versuchen wir mehr Privatsphäre und bessere Bedingungen für die Kinder zu schaffen.
Überraschenderweise fühle ich mich hier in der Ukraine ziemlich wohl. Das Team des Roten Kreuzes und die Schutzsuchenden sind sehr freundlich und offen. Sie sind bereit, über das Durchgemachte zu sprechen und zeigen sich sehr aufgeschlossen.
Mir ist bewusst, dass es ein Privileg ist, jeden Morgen ohne Angst zu erwachen und den Alltag wie gewohnt zu leben. Vielen Menschen wurde dieses Privileg genommen. Sie leben heute teilweise unter schwierigen Umständen in improvisierten Unterkünften. Als ausgebildeter Architekt kann ich hier im Auftrag des SRK ihre Lebensumstände verbessern.»