Von Cherson nach Andermatt
Im Hotel Aurora in Andermatt sind 35 Geflüchtete aus der Ukraine untergebracht. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) betreibt die Unterkunft für den Kanton Uri. Seit Mitte Mai ist auch die fünfköpfige Familie Makiienko aus Cherson hier. Sie kann nun wieder Fuss fassen und sich neu orientieren.
Natalia Makiienko sitzt vor einer Tasse Tee im rustikalen Speisesaal des Hotels. Draussen strahlt die Sonne, die Temperatur ist aber trotz Hochsommers frisch. Die Ukrainerin, die erst wenige Wochen in der Schweiz ist, zeigt auf die Wiesen und Berggipfel rund um das Hotel: «Ist dieser Ausblick nicht fantastisch? Hier findet man wirklich Ruhe.» Die Naturverbundenheit hilft der 40-jährigen Mutter im neuen Alltag in Andermatt und ermöglicht der Familie, in einer schwierigen Situation auch positive Erfahrungen zu machen: Eine Radtour beispielsweise, die Vater und Sohn auf den Gotthard unternommen haben, oder der Kindergartenausflug zur Teufelsbrücke, von dem die Jüngste noch immer erzählt.
Zur Familie gehören der 15-jährige Vlad, der achtjährige Artur und die fünfjährige Diana. Als Vater von drei Kindern durfte auch der Ehemann, Oleksiy Makiienko, die Ukraine verlassen. Das Leben in der besetzten Stadt Cherson und die Flucht haben Spuren hinterlassen. Mutter und Kinder waren im April in die Westukraine geflüchtet, der Vater folgte später nach und war auf dem Fluchtweg Schikanen ausgesetzt. Zur Ausreise in die Schweiz entschied sich die Familie wegen einer Freundin, die hier lebt.
Das Schuljahr in der Schweiz beendet
Natalia Makiienko ist ausgebildete Lehrerin und Psychologin. Sie bemüht sich sichtlich, ihren Kindern trotz Krieg in der Heimat unbeschwerte Momente zu ermöglichen. «Andermatt ist für uns ein Glücksfall. Die jüngste Tochter und der älteste Sohn haben bereits Freundschaften geschlossen und das Schuljahr gut abgeschlossen. Für den mittleren Sohn ist die sprachliche Integration schwieriger und er zieht sich oft an den Computer zurück.»
Auch für die Eltern ist die Situation einige Monate nach der Flucht noch immer belastend. Beide führen virtuell ihre bisherige Tätigkeit weiter. Die Mutter bietet psychologische Beratungen an, der Vater ist Dozent für Tourismus an der Universität Cherson. «Mir ist es wichtig, mit Arbeitskollegen und Freunden in Kontakt zu bleiben. Aber es bedrückt mich auch. Wie es im nächsten Semester weitergeht, ist noch offen», erzählt er. Auch für die Psychologin Natalia Makiienko bleibt die Arbeit zentral. «Einige meiner Klientinnen und Klienten sind noch in der Ukraine. Sie brauchen mich jetzt ganz besonders.»
Im Auftrag des Kantons Uri
Die geflüchtete Familie schätzt es, dass im Hotel Aurora für den Grundbedarf gesorgt ist und sie sich mit anderen austauschen kann. In den Hotelzimmern sind aktuell 35 Personen untergebracht, Platz hätte es für 50. Das Hotel ist in die Jahre gekommen und soll durch einen Neubau ersetzt werden. Ein Glücksfall für den Asyl- und Flüchtlingsdienst Uri des SRK, der es bis dahin unentgeltlich nutzen kann. Zwei weitere Hotels stehen bei Bedarf zur Verfügung. Die Mehrheit der Schutzsuchenden aus der Ukraine ist im Kanton Uri jedoch in Wohnungen untergebracht.
Das SRK-Team von Kurt Strehler ist seit Kriegsbeginn rund um die Uhr gefragt. «Wir konnten rasch mit Wohnungen reagieren und erhielten vom Bundesasylzentrum Chiasso Personen aus der Ukraine zugewiesen. Andere kamen direkt zu uns, etwa weil sie hier Bekannte haben.» Für Geflüchtete mit dem Schutzstatus S erhielt das SRK einen zusätzlichen Leistungsvertrag mit den Kanton Uri. Im Sommer 2022 ist es für 810 Geflüchtete zuständig, darunter 210 aus der Ukraine. Integrationsmassnahmen und psychosoziale Unterstützung müssen nun für die neuen Geflüchteten ausgebaut werden.
Ziel ist ein möglichst selbständiges Familienleben in einer Wohnung.
Kurt Strehler, Asyl- und Flüchtlingsdienst SRK Uri
Ein Stück Normalität
Während genügend Wohnraum vorhanden ist, ist die Personalsituation angespannt, berichtet Strehler. «Wenn man mehrere Personen gleichzeitig einarbeiten muss, muss man das Konzept laufend anpassen.» Die Betriebsleitung in Andermatt hat mit Emile Cavalho eine langjährige SRK-Mitarbeiterin übernommen. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Unterkunft beteiligen sich an den Reinigungsarbeiten, die Mahlzeiten werden vom örtlichen Altersheim geliefert. «Es ist ein offenes Haus, in dem man frei ein- und ausgehen kann und der Alltag möglichst normal verläuft», betonen die Verantwortlichen. Dazu trage auch bei, dass die acht ukrainischen Kinder der Unterkunft in Regelklassen zur Schule gehen.
Was sind die nächsten Schritte der Familie Makiienko? «Erste Priorität hat nun ein Deutschkurs, zweite Priorität eine eigene Wohnung – ein Daheim für die Kinder», berichtet die Mutter. Danach wollen sie sich vertieft um die schulische und berufliche Zukunft kümmern. Eine Klassenlehrerin ist zu einer wichtigen Bezugsperson für die ganze Familie geworden. «Sie unterstützt uns sehr und beantwortet unsere Fragen zur Ausbildung in der Schweiz.» Kontakt zur lokalen Bevölkerung knüpft die Familie auch im kleinen Laden, den Freiwillige neben der Unterkunft betreiben. «Wir haben nur einige Spielsachen mitgebracht und sind sehr dankbar für die Spenden.»
Schnell wieder selbständig
Den Nachmittag verbringt die Familie auf einem nahegelegenen Spielplatz. Für einen Moment kommt Natalia Makiienko auf die Vergangenheit zu sprechen. «In der Ukraine haben wir gerne draussen in der Natur campiert. Jetzt ist in diesem Gebiet alles vermint und man wird sich noch während Jahren nicht sicher bewegen können.» Sie fasst sich rasch wieder und kommt zurück in die Gegenwart. Auf dem Rückweg pflückt die Familie Rosenblüten. «Daraus werden wir Tee zubereiten. Für die Schulferien haben wir uns vorgenommen, Heidelbeeren zu sammeln.»
Beim SRK nimmt man unterdessen die nächsten Hürden in Angriff, um das Angebot für Geflüchtete zu erweitern. So ist Emile Cavalho mit Freiwilligen aus der Gemeinde im Gespräch und Kurt Strehler rekrutiert weiterhin zusätzliches Personal. Nach den Sommerferien wird es im Zentrum in Andermatt ein Freizeitprogramm für Kinder und einen Intensiv-Deutschkurs geben.
Für Kurt Strehler steht im Vordergrund, dass die Geflüchteten bald aus den Zentren entlassen werden: «Sie haben vor der Flucht selbständig gelebt und sollen dies möglichst schnell wieder tun. Sie sollen ihre eigenen Flügel wieder zum Fliegen nutzen können und sich frei und selbstbestimmt bewegen.»