Wenn Kinder nach ihren Eltern suchen
Seit 2022 nehmen die Suchanfragen von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) beim Suchdienst SRK zu. Wie es dazu kam und wieso der Suchdienst unbedingt mehr Ressourcen benötigt, lesen Sie im Interview mit Nicole Windlin, Leiterin Suchdienst SRK.
Hast du eine Erklärung dafür, wieso die Anfragen gestiegen sind?
Nicole Windlin: Die Anfragen bei uns steigen parallel zu den Einreisen in die Schweiz. Unsere Erfahrung zeigt, dass etwa 10 bis 15 Prozent der ankommenden unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA’s) eine Anfrage an uns stellen. Die meisten kommen aktuell aus Afghanistan. Mit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lebenssituation in Afghanistan verschlechtert: Verfolgung, Drohungen und Hunger aber auch fehlende Perspektiven treiben sie zur Flucht.
Nicole Windlin
Nicole Windlin leitet seit 2008 den Suchdienst SRK mit aktuell neun Mitarbeitenden. Sie ist Sozialarbeiterin mit Spezialisierung im internationalen Bereich.
Die meisten afghanischen Jugendliche erstaunen uns. Schon nach einem Jahr benötigen sie keine Dolmetschenden mehr und sprechen bereits eine der Schweizer Landessprachen.
Nicole Windlin, Leiterin Suchdienst SRK
Was tut ihr für die suchenden Kinder?
Wir bieten ihnen über die Online-Plattform «Trace the Face» eine Suchmöglichkeit innerhalb des Rotkreuz- und Rothalbmondnetzwerks an. Im Idealfall führen wir ein persönliches Gespräch mit jedem einzeln. Wir versuchen so gut als möglich, ihre individuelle Geschichte zu verstehen und sie aus ihrer Erstarrung herauszulösen. Wir mobilisieren sie, so dass sie beispielsweise über die Community in der Schweiz aber auch in anderen Ländern suchen können. Wir sensibilisieren sie für die Suchmöglichkeiten über Social Media und klären über Chancen und Risiken auf.
Warum sind nicht mit allen Kindern persönliche Gespräche möglich?
Unsere Ressourcen sind beschränkt. Leider wird unsere Warteliste für Erstgespräche mit jedem Tag länger. Aktuell warten 140 Minderjährige auf ein erstes Gespräch. Deshalb mussten wir priorisieren und führen die persönlichen Gespräche im Moment nur noch mit Kindern unter 15 Jahren. Es gibt auch Ausnahmen: In Fällen, die wir als besonders vulnerabel erachten oder wo sehr konkrete Suchmöglichkeiten vorhanden sind. Allen anderen können wir nur «Trace the Face» anbieten und auch das mit langen Wartezeiten.
Unsere Ressourcen sind beschränkt. Leider wird unsere Warteliste mit jedem Tag länger. Aktuell warten 140 Minderjährige auf ein erstes Gespräch.
Nicole Windlin, Leiterin Suchdienst SRK
0unbegleitete minderjährige Asylsuchende
Heute ist jeder zehnte Asylsuchende in der Schweiz unter 18 Jahre alt und unbegleitet.
0aus Afghanistan
Gut 80 Prozent (81,7) der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) kommen aus Afghanistan.
0wartende UMA
Ende 2023 warten 140 UMA auf ein Erstgespräch mit dem Suchdienst SRK. Die älteste Anfragen sind von Ende 2022.
Wie geht ihr damit um, dass ihr nicht allen Kindern helfen könnt?
Das ist keine einfache Situation. Wir holen aus den bestehenden Ressourcen das Bestmögliche heraus und müssen akzeptieren, dass mehr nicht möglich ist. Die grösste Herausforderung ist, dass wir den einzelnen Kindern nicht gerecht werden können. Das tut weh und belastet. Innerhalb des Teams unterstützen wir uns gegenseitig. Das hilft.
Ein Lichtblick zum Schluss?
Ich erachte es als Menschenrecht, dass eine Suche nach einer vermissten Person in Gang gesetzt wird. Dass versucht wird, Antworten zu finden. Mit uns setzen sich weltweit Menschen dafür ein: Sie suchen nach Personen, identifizieren Tote oder setzen sich bei Regierungen für mehr Mittel und Verständnis ein. Das gibt uns das Gefühl, nicht allein zu sein.